“Digital Wellbeing” – so heißt die “Bildschirmzeit” bei Android. Das Feature erlaubt Nutzer*innen, ihre Zeit am Handy zu tracken und Limits für Apps zu setzen. Bemerkenswert, dass Mental Health damit (wieder einmal) auf Selbstoptimierung reduziert wird. Ich frage mich: Was ist mit der Verantwortung von Unternehmen, und welche Rolle spielen Designer*innen?
The best interface is no interface
Ich liebe das Internet, wirklich. Seit ich 13 bin, schreibe ich Blogs (heute mitunter peinlich); viele meiner Freund*innen habe ich online kennengelernt (bis heute stolz darauf). Das Internet ist voller Möglichkeiten, Gleichgesinnte zu finden, Interessen zu verfolgen und Neues zu lernen.
Ich liebe auch Interfaces. Besonders solche, die ich als smart und ästhetisch empfinde. Dennoch sprach mich vor sechs Jahren in der abgelegenen IT-Fachbibliothek der Uni Hamburg ein Titel sofort an: “The Best Interface is No Interface” von Golden Krishna.

Es ist wahr: Die besten digitalen Produkte sind die, die uns unterstützen, ohne sich ins Zentrum unseres Alltags zu drängen. Die uns lästige Arbeit abnehmen, eben damit wir uns mit dem echten Leben beschäftigen können. Die uns unsere Wünsche fast schon von den Augen ablesen. Aber wird es hier nicht auch tricky?
Die Technologien, die wir nutzen, werden schlauer. Nicht so schlau, wie wir glauben (hier empfehle ich “Hello World” von Hannah Fry). Aber dennoch schlau genug, um zu berechnen, was wir gerade in diesem Moment suchen. Und um uns, Gamification-like, bei der Stange zu halten. Der Grat zwischen Predictive Design (die nächstbeste Aktion vorhersehen) und Persuasive Design (zur nächstbesten Aktion überreden) ist schmal.
Dass die rote Notification-Bubble unsere Finger oder Mauszeiger lenkt, dass wir unsere Smartphones kompulsiv checken obwohl wir die Push-Benachrichtigungen ausgeschaltet haben, und dass wir in globalen Krisen ganze Tage mit passivem (Doom-)Scrolling verbringen, kann nicht das sein, was wir uns wünschen. Es ist, was Meta und Co wollen.
Das Internet sieht aus dieser Perspektive schon deutlich schlechter aus. Dabei haben wir noch nicht einmal Fake News, Wahlmanipulation und Radikalisierung thematisiert. Aber bleiben wir bei der Aufmerksamkeitsökonomie, die unsere mentale Gesundheit vielleicht am unmittelbarsten strapaziert – und uns für die anderen Gefahren schwächt, indem sie uns konstant beschäftigt.
Wie wir uns der Aufmerksamkeitsökonomie entziehen können
Wie entkommen wir der Kapitalisierung der Aufmerksamkeit? Als Nutzer*innen? Keine Ahnung. Alles abschalten ist für die meisten von uns weder realistisch, noch erstrebenswert. Als Designer*innen? Indem wir nicht für Unternehmen arbeiten, deren Business Modell darauf aufbaut.
Wenn das Ziel ist, Nutzer*innen möglichst lange oder oft in der App zu halten, ist die Produktvision mindestens unausgefeilt, meistens aber ethisch fragwürdig.

Jenny Odell macht in ihrem Buch “Nichts tun: Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen” das politische Argument, dass Mündigkeit, nicht Bevormundung, der Schlüssel sein muss – in meinen Augen eine ethisch korrekte, wenngleich utopische Position.
Nicht jede*r wird die Kapazität haben, sich zum Ausgleich seines digitalen Konsums zurück auf die Natur zu besinnen wie die Autorin. Und technische Bildschirmzeit-Features haben weniger mit Mündigkeit, als mit Selbstbevormundung zu tun. Ich persönlich möchte mir nicht selbst nach x Minuten das Handy wegnehmen müssen, weil ich ohne Verbote nicht mehr zurecht komme. Ich glaube, dass Digital Wellbeing auf Unternehmensseite ansetzen und deshalb auch von Designer*innen mitgedacht werden werden.
Kann Design nicht manipulativ sein?
Relevant für mich ist, dass es die Möglichkeit – im Sinne einer Gefahr – gibt, dass ich mit meinem Design andere Menschen beeinflusse. Dass sie auf ein digitales Produkt “Hooked” werden, weil ich bei der Konzeption einer gruseligen Manipulationsanleitung (einem Bestseller) gefolgt bin. Weil Retention – also, ein bestimmter Grad an Suchtverhalten – als KPI vorgegeben war.
Es ist relativ durchschaubar, dass die Versprechungen von besseren Gewohnheiten in diesem Kontext oftmals nur das sind. Versprechungen. Dass Bücher wie “Nudge” und “Hooked” Designer*innen und Unternehmer*innen suggerieren wollen, dass sie ihr Wissen auch nutzen können, um “gutes” Verhalten zu fördern, kann man nicht uneingeschränkt gut finden, wenn man sich nicht gottgleich über andere erheben will.

Ich glaube, dass wir als Designer*innen mehr leisten sollten als uns auf zeitgeistige OS-Updates von (ausgerechnet) Google und Apple zu verlassen. Die Antwort liegt für mich letztlich weniger darin, Nutzer*innen positiv zu beeinflussen, als darin, sie nicht negativ zu beeinflussen. Ergo: sie nicht zu manipulieren. Den freien Willen von Nutzer*innen zu respektieren klingt wie ein Allgemeinplatz, ist aber etwas, an das ich mich in meinem Arbeitsalltag wieder und wieder erinnern muss, bevor ich ein suggestives Element einfüge und eine andere Option dafür verstecke.
Natürlich muss im Design priorisiert werden. An manchen Stellen muss ich definieren, welche die wichtigere bzw. die naheliegende Interaktion ist. Designer*innen können Vorschläge machen, indem ihre Interfaces passende Aktionen anbieten, oder Bedürfnisse antizipieren. An dieser Stelle nicht zu weit zu gehen, bleibt jedoch entscheidend. Einen praxistauglichen Ansatz für Designer*innen bietet das Ethical Design Handbook von Trine Falbe, Martin Michael Frederiksen und Kim Andersen.
Raus aus der digitalen Welt!

So überstrapaziert die Dämonisierung des Touchscreens inzwischen ist – wIR waChEn mOrGenS aUf uND bErüHReN uNsEr iPhONe aNSteLLe UnSeRes PaRtneRs!!!!111 – und so sehr ich meine Internetfreund*innen liebe, stelle ich doch immer wieder fest, dass digitale Begegnungen und Hobbies vor dem Bildschirm mich nach einer gewissen Zeit von der anfassbaren, echten Welt entfremden. Das Starren aufs Display macht einsam – genau wie jede andere Sucht.
Who am I actually? The always happy, successful, sociable person I put on Instagram, or someone who at times fails, falters and feels unsure? And what happens if the fake me is the one that my friends online prefer? The more carefully we curate our social media lives, the more we commodify ourselves, the more we risk feeling that no one either knows or likes the ‘real’ person behind the profile. It’s an isolating and disconnecting feeling.
Noreena Hertz: The Lonely Century, S.111
Ich treffe meine Internetfreunde inzwischen gerne zum gemeinsamen Urlaub, wenn wir schon nicht in derselben Stadt leben. “Soziale” Apps nutze ich nur, solange sie Spaß machen und ich die mentalen Kapazitäten habe. Ich pfeife auf dogmatische Bildschirmzeit-Begrenzung. Das Internet ist da und wird nicht wieder weggehen. Sich anhand von Regeln und Verboten selbst zu infantilisieren, macht das schlechte Gewissen und den Druck im Zweifelsfall nur schlimmer. Aber wenn die Sonne scheint, dann bin ich lieber draußen. Wenn ich mit Menschen am Tisch sitze, dann verliert das iPhone jeden Reiz.
Als Privatperson bemühe ich mich um einen Weg, der sich intuitiv und selbstbestimmt anfühlt und nicht wie hilfloses Schwanken zwischen Konsum und Entzug. Als Designerin habe ich mich entschieden, aktiv gegen die Aufmerksamkeitsökonomie zu arbeiten. Und das motiviert mich insbesondere für Projekte, die sich mit echter Gemeinschaft beschäftigen.
S.
Leseliste (nach Relevanz)
- Jenny Odell: Nichts tun – Die Kunst, sich der Aufmerksamkeitsökonomie zu entziehen
- Trine Falbe, Martin Michael Frederiksen, Kim Andersen: The Ethical Design Handbook
- Issy Beech: How to be online and also be happy
- Golden Krishna: The Best Interface is No Interface
- Guido Zurstiege: Taktiken der Entnetzung – Die Sehnsucht nach Stille im digitalen Zeitalter
- Noreena Hertz: The Lonely Century – A Call to Reconnect
- Hannah Fry: Hello world – Was Algorithmen können und wie sie unser Leben verändern
Mehr Einblicke in Bücher, die mein UX Mindset prägen, gibt es auf meinem Instagram Account: @sabineappel.ux