Kürzlich war ich auf der Suche nach einem WordPress-Theme für ein Projekt, auf dem ich ausnahmweise ohne Entwickler arbeite. Seit meinem letzten Blog aus 2017 hat sich überraschend wenig getan: nahezu jedes Theme auf dem beliebten Marktplatz läuft mit mindestens einem schweren Page Builder und zig weiteren Plugins. Auch der Look ist noch wie damals: Hauptsache glossy, animiert und super-variabel.
Klar, Maximalismus ist seit der Pandemie auch als Wohntrend zurück. Und im digitalen Raum ist er noch viel einfacher umzusetzen: der Platz ist praktisch unendlich. Warum Minimalismus, wenn unsere Rechner immer schneller werden und das mobile Datenvolumen selbst in Deutschland laaaangsam größer?
Was ist minimalistisches Webdesign?
In seinem Buch “Nachhaltiges Webdesign” führt Tom Greenwood den Begriff des minimalistischen Webdesigns beinahe beiläufig ein und definiert ihn für die Praxis so:
Wir müssen die Existenz jedes Elements rechtfertigen und fragen nicht mehr: “Wäre es schön, dies hinzuzufügen?”, sondern stattdessen: “Können wir ohne es leben?” Es erfordert die Bewertung jedes Details einer Designlösung, von Bildern über Text bis hin zu Seiten und Inhalten. Es ist Minimalismus in seiner reinsten Form.
Radikal aussortieren also. Aber warum eigentlich?
Welche Vorteile hat minimalistisches Webdesign?
1. Umwelt: es spart CO2.
Für Tom Greenwood und seine Agentur Wholegrain Digital ist minimalistisches Webdesign vor allem auf das Kleinhalten von Emissionen ausgelegt – denn die sind gewaltig. Wäre das Internet ein Land, hätte es laut Greenpeace bereits 2012 den sechstgrößten Stromverbrauch der Welt gehabt. Das war, bevor Netflix nach Europa kam.
Man kann sich denken, dass kleine und mittelgroße Websites im Vergleich zu Videostreaming-Plattformen nun nicht die größten Stromfresser und CO2-Emittenten sind. Aber wenn es schon vor unserem 24/7 Online-Video-Konsum so schlimm war, dann muss auch in diesem Bereich etwas passieren. Von den Leitungen über die Rechenzentren bis zum Gerät des Endnutzers: das Internet ist nicht klimaneutral.
In Tom Greenwoods Buch werden verschiedenste Maßnahmen geschildert, um den Verbrauch von Websites zu drücken – bis hin zu Schwarz-Weiß-Fotos und Webhosting durch ein Solarpanel auf dem eigenen Dach.
Auch wenn mir das für die meisten Kundenprojekte ein bisschen zu weit ginge, muss der Trend insgesamt zur kleineren Website gehen. Das Seitengewicht (also die Größe) entscheidet maßgeblich darüber, wie viel CO2 bei jedem Aufruf emittiert wird. Ich sehe es daher als meine Pflicht, einzelne Seitenelemente bewusst (nicht) zu setzen und Tools zu nutzen, mit denen die Website bei gleicher Qualität leichter wird.
2. Usability: es führt schneller zum Ziel.
Steve Krug nannte es schon im Jahr 2000 “Don’t Make Me Think”, ich nenne es “laber mich nicht voll und geh weg mit der Deko.” Das ist keine Einzelmeinung, auch wenn ich unaufgeräumte Interfaces persönlich nehme. Alex Hollender, UX Designer bei Wikimedia, formuliert es so:
Organizing and minimizing the clutter allows us to accentuate things in a more intentional manner. It’s better to provide people with a few clear pathways (…), rather than having a scattershot approach, which might catch a random curious person here or there.
Eine ordentliche Nutzerführung ergibt dann auch weniger sinnlose Klicks, ergibt weniger Reloads und damit weniger Emissionen (siehe Grund 1).
3. Accessibility: es lenkt weniger ab.
Minimalistisches Webdesign reduziert die Elemente im Interface, und eliminiert damit auch Störfaktoren. Während die “distraction epidemic” uns alle irgendwie betrifft und wir nur gut daran tun, uns gegen die Aufmerksamkeitsökonomie zu wehren, ist minimalistisches Design vor allem für Menschen im neurodiversen Spektrum wichtig.
Personen mit ADHS profitieren beispielsweise sehr davon, wenn es einen klaren Fokus im Interface gibt und die Information nicht auf zig verschiedenen Seiten verteilt ist. Wenn schon der erste Blick aufs Wesentliche gelenkt wird, fällt es leichter, dabei zu bleiben.
Auch Personen mit Sehbehinderungen können Designs mit wenigen Elementen besser navigieren – zum Beispiel per Screenreader.
4. Privacy: es spart Daten.
Zum Schluss noch eine steile These, aber vielleicht habe ich zumindest ein bisschen recht. Ich behaupte: Weniger Features = weniger Möglichkeiten, Daten zu sammeln.
Gerade bei den oben genannten WordPress-Themes wird man als Webdesigner*in dazu verleitet, unbedingt noch schnell ein Kontaktformular einzubauen und einen Newsletter in Auftrag zu geben. Wer nicht mindestens wöchentlich E-Mails versendet, ist praktisch unsichtbar, oder?
Aber: mit Newsletter, Kontaktformular und Kommentarfunktion landet man eben sehr schnell im DSGVO-Dschungel, denn solche Features speichern Nutzerdaten und das ist nie trivial. Selbst dann nicht, wenn man sie nicht weiter nutzt.
Ich empfehle deshalb, sich den Einsatz datenschutzrelevanter Funktionen gründlich zu überlegen. Und das geht eben einfacher, wenn der Modus ohnehin schon minimalistisches Design ist.
Mein erster Versuch einer minimalistischen Website
Bei allem Minimalismus habe ich jetzt ganz schön viel erzählt und wenig bewiesen. Naja: der erste bewusste Versuch einer minimalistischen Website war dieser.
Mein Portfolio ist auf einem simplen WordPress Theme aufgebaut und enthält (abgesehen von meinen ausschweifenden Blogposts) nur die wichtigste Information. Es gibt keine flashy Bilder, weil es in meinem Job nicht um visuelle Effekte geht. Die meisten Menschen, die auf meine Website kommen, haben bereits ein Verständnis von meinem Angebot, weil sie eine UX Designerin suchen.
Heute, am 12.04.2023, hat sabineappel.de ein so geringes Seitengewicht, dass nur 0,14g CO2 pro Aufruf produziert werden. Das ist kein absoluter Spitzenwert, aber laut websitecarbon.com immerhin sauberer als 87% aller Websites. Mein Portfolio liegt zudem bei einem Hosting-Provider, dessen Rechenzentrum in Deutschland steht und grüne Energie verwendet.
Ich freue mich, wenn in Zukunft auch meine Kunden offen für einen reduzierten Design-Ansatz sind. Wir brauchen minimalistisches Webdesign, weil es besser für die Umwelt ist, Nutzer*innen schneller zum Ziel führt, mehr Menschen inkludiert und Daten spart.
S.
Quellen
- Tom Greenwood: Nachhaltiges Webdesign (2021)
- Alex Hollender: Design notes on the 2023 Wikipedia redesign https://uxdesign.cc/design-notes-on-the-2023-wikipedia-redesign-d6573b9af28d
- HDI: This Is Your Brain on Technology – The Distraction Epidemic https://www.thinkhdi.com/library/supportworld/2014/distraction-epidemic.aspx
- Eva Katharina Wolf: Software accessibility for users with Attention Deficit Disorder (ADHD) https://uxdesign.cc/software-accessibility-for-users-with-attention-deficit-disorder-adhd-f32226e6037c
- websitecarbon.com